Rotwelsch ist ein Sammelbegriff für sondersprachliche Soziolekte bzw. „Dialekte“ gesellschaftlicher Randgruppen: Nach einer frühen Erwähnung im Narrenschiff von 1494 als Sprach- und Charaktereigenschaft von Bettlern, ist der 1510 erschienene Liber vagatorum die wohl erste gedruckte größere Darstellung und stellt mit den drastischen Worten des späten Mittelalters die (Sprach-)Welt von Bettelnden, fahrendem Volk (Vaganten), „unehrlichen Berufen“ und Kriminellen in den Vordergrund.

In der Folge sind mit der Ansiedlung von Gruppen vormals Nichtsesshafter in den entsprechenden Regionen über den Sprachkontakt seit dem 17. Jahrhundert insbesondere lexikalische Einflüsse entstanden; zahlreiche Wörter des Rotwelsch wurden in die Umgangssprache aufgenommen: Das Universalwörterbuch der deutschen Sprache aus dem Dudenverlag führt z. B. in seiner 5. Auflage mehr als 70 Wörter rotwelscher oder gaunersprachlicher Herkunft mit entsprechenden Lemmata auf.

Bezeichnungen

Eine ausführliche Diskussion zur Herkunft und Begriff des Rotwelschen findet sich bei Hansjörg Roth. Die Herkunft des Wortes Rotwelsch, das schon um 1250 in der Form rotwalsch („betrügerische Rede“) bezeugt ist, ist nicht ganz sicher. Das Wort welsch, mit der eigentlichen mittelhochdeutschen Bedeutung „romanisch“ (französisch und italienisch), hat auch die übertragenen Bedeutungen „fremdartig“, „unverständliche Sprache“, wie in der Zusammensetzung „Kauderwelsch“. Der Bestandteil rot wird dagegen mit dem rotwelschen Wort rot für „Bettler“ erklärt, das seinerseits mit rotte („Bande“) oder mit mittelniederländisch rot („faul, schmutzig“) in Verbindung gebracht wird. Zunächst eine abwertende Fremdbezeichnung, wurde bereits nach den ersten Quellen des 15. Jahrhunderts diese von den Sprechern selbst zur Bezeichnung ihrer Sprache adaptiert. Die zunächst insbesondere in der älteren Literatur neben Rotwelsch am meisten verbreitete Fremdbezeichnung ist Gaunersprache, die jedoch in der neueren Literatur wegen ihrer Fokussierung auf delinquente Sprechergruppen gemieden wird. Besonders, da der soziale Kontext des Sprachgebrauches über die Sprache auch der Diskriminierung der Sprecher diente, wie es sich an der oft zitierten Definition des „Sprachpuristen“ Eduard Engel von 1916 zeigen lässt:

Im sogenannten Kampf gegen die „sprachliche Entvolkung Deutschlands“ sieht da Eduard Engel die vermeintliche „Verherrlichung des Gaunertums und dessen Sprache“ durch Lehnworte flankiert und durch den Fremdsprachengebrauch der Intellektuellen aufgehübscht. Er stellt diesen sein Kampfmotto „Sprich Deutsch!“ entgegen, das gerade mit der Bezugnahme auf Rotwelsch schon antisemitische Züge trägt.

Entstehung

Die Gründe für Entstehung und Gebrauch des Rotwelsch ergeben sich aus der besonderen Bedürfnislage der Sprechergruppen und ihrer sozialen Ausgrenzung und Sonderstellung. Eine zentrale Rolle spielt die Geheimhaltung, d. h. das Anliegen, die Kommunikation zwischen den Mitgliedern gegen Außenstehende abzuschirmen. Hinzu kommt bei Gruppen gemischter sozialer, regionaler und sprachlicher Herkunft der auch bei sonstigen Fachsprachen gegebene Zweck, die Verständigung in den für die gemeinsame Berufsausübung oder Lebenspraxis wichtigen Angelegenheiten durch die Einhaltung eines vereinbarten Codes mit relativ festgelegten Bedeutungen zu sichern. Indem die Sprecher durch den Erwerb der Sondersprache zu Mitgliedern der Sprechergemeinschaft werden und sich untereinander als Mitglieder einer Gruppe von Eingeweihten zu erkennen geben, besitzt das Rotwelsch außerdem eine besonders bei sozial ausgegrenzten Gruppen wichtige identitätsbildende und integrative, den Zusammenhalt der Gruppe und das Zugehörigkeitsgefühl stärkende Funktion.

Der hohe Anteil an jiddischen und hebräischen Lehnwörtern erklärt sich dadurch, dass Juden von den meisten landwirtschaftlichen und bürgerlichen Berufen ausgeschlossen waren und darum bis ins 19. Jahrhundert einen bedeutenden Teil der Träger mobiler Berufe, besonders der fahrenden Händler und Hausierer, stellten. Walter Benjamin beschreibt den sozialgeschichtlichen Zusammenhang in einer Radiosendung vom 23. September 1930 so:

Daraus ergibt sich dann auch der Anteil an Sprachelementen des Romanes. Da es sich durch die permanente Migration bei den nicht sesshaft lebenden Menschen um eine multi-ethnische Population handelte, weist das Rotwelsch weitere Einflüsse auch aus anderen europäischen Sprachen auf, so aus dem Französischen und Italienischen. Überschneidungen und wechselseitige Beeinflussungen bestanden besonders noch mit folgenden Gruppen und ihren jeweiligen Sondersprachen:

  • Handwerker, die ihren Beruf als Fahrende ausübten oder, wie z. T. noch heute, einen Teil ihrer Ausbildung als reisende Handwerker auf der Walz erwerben.
  • Händler und Schausteller, die ihren Beruf selbst als Fahrende ausübten oder auf Messen und Jahrmärkten, wichtigen Sammelpunkten für Bettler und andere Fahrende, mit diesen in Kontakt kamen.
  • Landsknechte und Soldaten, die als Deserteure oder Ausgemusterte, sozial Entwurzelte und Invalide den „classes dangereuses“ stetigen Zulauf boten.
  • Schüler und Studenten, die im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu den Vaganten zählten und auch lateinisches Wortgut in das Rotwelsch einbrachten.

Unter den von der Ständegesellschaft geächteten Berufen, die vielfach von Fahrenden oder auch sesshaft gewordenen Fahrenden ausgeübt wurden, sind außer den Bettlern, Prostituierten und (nur bedingt als Unehrliche einzustufenden) Schankwirten noch die Schinder und Scharfrichter zu nennen, aber auch die Müller und Köhler, deren außerhalb der festen Siedlungen gelegene Wohn- und Arbeitsstätten wichtige Anlaufpunkte für Fahrende und Kriminelle waren.

Sprachbestand

Rotwelsch als Sonderwortschatz

Rotwelsch unterscheidet sich hauptsächlich lexikalisch von der deutschen Umgangssprache und ihren Dialektvarianten, es handelt sich insofern nicht um eine eigenständige Sprache, sondern um einen Sonderwortschatz (Jargon), der sich in sozial, regional und zeitlich verschiedenen Varianten ausgeprägt hat. Er beruht auf Entlehnungen, oft in Verbindung mit Umdeutungen, aus dem Westjiddischen in Form von Hebraismen in aschkenasischer Lautung, aus dem Romani vorwiegend der Sinti (Sintitikes) und aus Nachbarsprachen des Deutschen, insbesondere dem Niederländischen und Französischen, ferner auf Veränderung oder Umdeutung gemeinsprachlich bekannter deutscher Wörter durch Bedeutungsübertragung und Bedeutungsverschiebung, Bildung neuer Komposita, Affigierung und Permutation (vergleiche u. a. Verlan, Kedelkloppersprook). Der spätere Weimarer Bibliothekar Carl Ludwig Fernow bereiste 1794 Oberitalien. Zu seinen Kulturstudien gehörte ein umfangreicher Korpus zum „Jargon“ der Unterschichten, bei dem er viele lautmalerische Verballhornungen, Volksethymologien und Buchstabenverdrehungen beobachtete.

Das Kapitel über die Bettler im Narrenschiff zitiert zahlreiche rotwelsche Begriffe, die nur aus dem Kontext verstehbar sind, ansonsten als „närrische Rede“ gelesen werden:

Eine umfassende Wortliste hat Siegmund A. Wolf, der 6436 Grundbegriffe mit jeweils oft mehreren Ableitungen auflistet und dazu genaue Quellenangaben macht. Etymologien besonders zu Wörtern jiddischen Ursprungs hat Hans Peter Althaus erarbeitet.

Da Rotwelsch eine stark lokal bzw. dialektal geprägte (auch teils fachsprachlich beeinflusste) Sprachvarietät ist, findet man zwischen originalen rotwelschen Wortlisten verschiedener Autoren oft nur kleinere Schnittmengen. Karl Kraus charakterisiert das so: „Der deutsche Charakter einer Stadt ist ihr Lebtag noch nicht an der Sprache, die sie spricht, erkannt worden. Doch die in Wien gesprochene und geschriebene, mit diesem Kauderwelsch des Verkehrs, diesem Rotwelsch des Handels und dem Deutsch der Zeitung, ist so geartet, daß man sich wundert, wie dergleichen auch nur ein Verständigungsmittel zwischen den Wienern bilden kann.“ Ein großer Teil der veröffentlichten Arbeiten über Rotwelsch wurden ohne Quellenangabe kompiliert. Friedrich Christian Benedikt Avé-Lallemant hat diesen Epigonen und Plagiatoren in seinem Werk über das deutsche Gaunertum einige Kapitel gewidmet. Beispielsweise ist die Rotwellsche Grammatik von 1755 solch ein Werk ohne Eigenwert.

Heute hört man Rotwelsch noch bei reisenden Handwerkern sowie bei Landstreichern, Berbern und Bettlern. Bedingt durch die Ansiedlung von Nichtsesshaften nach dem Dreißigjährigen Krieg sowie später durch Landflucht und den Übergang Fahrender ins städtische Proletariat haben sich in einigen Städten wie Berlin und in oberrheinischen, fränkischen und schwäbischen Gemeinden wie Schillingsfürst und Schopfloch lokale, z. T. nur auf bestimmte Wohnviertel beschränkte Mundarten herausgebildet, deren Wortschatz noch heute besondere Anteile von Rotwelsch aufweist.

Für den Dramatiker Heiner Müller war die Beschäftigung mit dem Rotwelsch auch ein Eintauchen in die Gegenwelten von Identität und Fremdheit der Vagabunden, die er als Seelenverwandte des Dichters sah.

Beispiele aus dem Vokabular

  • ausbaldowern bzw. baldowern: „auskundschaften“, von jidd. baal „Herr“, und jidd. dowor „Sache, Wort“, also „Herr der Sache“ „baal davar“ sein
  • Bimbes: „Geld“, von bims, „Brot“ und „Geld“
  • Bock: „Hunger, Gier“, von romani bokh „Hunger“, daraus auch dt. umgangsspr. Bock haben „Lust haben“
  • Bulle: „Kriminalbeamter, Polizist“, aus niederl. bol, „Kopf, kluger Mensch“
  • fechten: „betteln“ (Fechter, Fechtbruder: „Bettler“), ursprünglich besonders von Handwerksburschen oder Bettlern, die sich als Handwerksburschen ausgeben; nach einer Erklärung von 1727 sind Klopffechter „gewisse Handwerkspursche, die für Geld ihre Fechtschule halten und sich auf allerhand Gewehre miteinander herumbalgen“
  • Ganove: von hebr. ganav ״גנב״ „Dieb“
  • Kachny: von romani kaxni, kahni „Huhn“
  • kaspern: „reden“
  • Kohldampf: „Hunger“, von romani kálo, „schwarz“; daraus rotw. kohlerisch „schwarz“, Kohler „Hunger“, vgl. rotw. schwarz „arm, ohne Geld“; in der Bedeutung intensiviert durch Zusammensetzung mit rotw. Dampf „Hunger, Angst“, aus dt. Dampf (übertragen auch „Angstschweiß, Bedrängnis“)
  • Kober: „Wirt“, von jidd. kowo, kübbo „Schlafkammer, Bordell, Hütte, Zelt“; davon auch ankobern „anmachen, Freier aufreißen“ (siehe Koberer)
  • Krauter, Krauterer: „Handwerksmeister“, Etymologie unsicher, ursprünglich vielleicht Handwerker, die ihr Handwerk im Kraut, d. h. auf dem „freien Feld“, oder ohne Zugehörigkeit zu einer städtischen Innung auf dem Land ausübten
  • Kreuzspanne: „Weste, Zwangsjacke, Hosenträger“ (spannt sich über das Kreuz, d. h. den Rücken)
  • Model, Maudel, Mudel, Muldel: „Frau, Mädchen“
  • mosern, herummosern: „sich beschweren, nörgeln, meckern“. Urspr. Bedeutung aus dem jidd. massern war „verraten, ausplaudern“. Entwicklung ab dem 18. Jh. zur heutigen Bedeutung ist nicht geklärt.
  • Muß, Moß: „Mädchen, Frau, Dirne“, von dt. Mutze, „Vulva“, oder dt. Musche, „Hure“
  • platt: „vertraut, sicher, gaunerisch“, von jidd. polat „entwischen, entkommen“, polit „Flüchtling“, daraus auch platte Leute „Gauner“, Platte „Bande“, Platte machen „auf der Straße leben, im Freien nächtigen“
  • Polente: „Polizei“, von jidd. paltin „Burg, Palast“
  • Sauregurkenzeit: „schwierige Zeit“, von jidd. Zóres- und Jókresszeit, (gesprochen Soires un Jokre) „Zeit der Not und der Teuerung“
  • schinageln: „arbeiten“, älteste Bedeutung „Zwangsarbeit für die Obrigkeit leisten“, von jidd. schin-agolo („Schub-Karre“)
  • Schmiere stehen: „Wache halten“, von hebr. shmirah ״ שמירה״ „wachen“
  • Schmu: „Profit, unredlicher Gewinn, Pfusch“, jidd. schmuo machen „Gewinn an jemand machen durch verschmitztes Plaudern, Erzählen, Anpreisen“, jüd. (familiensprachlich) „unerlaubter Gewinn, Betrug“
  • Schocher, Schokelmei: „Kaffee“, aus jidd. schocher majim, „schwarzes Wasser“, und hebr. Sachor ״שחור״
  • schofel, schovel: „schlecht, schäbig, mies, gering, übel, niedrig“ (rotw. schofel „minderwertig, gemein, schlecht, wertlos“ < jidd. schophol, schophel „gering, niedrig, schlecht“)
  • Sore: „(Hehler-)Ware, Diebesgut, Beute“, von jidd. sechoro „Ware“
  • Stachelinus, Stachelingo: „Igel“, von romani štaxêlengêro, štaxengele, štaxlengaro „Igel“ (entlehnt aus dt. Stachel)
  • stapeln, stappeln: „betteln“, vom Stab des Bettlers oder dt. stoppeln „sammeln, Ähren lesen“
  • Stenz: „Stock, Prügel“, auch „Zuhälter, Penis“, wahrscheinlich von dt. stemmen
  • Stuss: „Unsinn, Unfug, dummes Gerede“, von westjidd. shtus „dummes Zeug“, auch urspr. hebr. „Irrsinn, Narrheit“
  • Wolkenschieber: „Nichtstuer“, so für Leute, die das früher Erlernte vergessen haben, z. B. bettelnde Handwerker, immer mit dem Beigeschmack des Bummlers, der auch keine Arbeit sucht. So ähnlich dann auch der „Berg- und Talversetzer“ und andere ironische Bezeichnungen für real nicht existierende Berufe, die nur den Eindruck der Beschäftigung erwecken sollen, so z. B. Chausseegrabentapezierer, Leichenwagenbremser, Turmspitzenvergolder, Türklinkenputzer, Schneeschipper im Sommer oder Kirschenpflücker im Winter.

Sprachverwendung

Rotwelsch ist eine gesprochene Sprachvarietät, von der kaum zusammenhängende Texte existieren. Das umfangreiche Vokabular des Rotwelschen ermöglicht es jedoch Schriftstellern, größere, gewissermaßen fingierte Textpassagen in Rotwelsch abzufassen. Ein frühes Beispiel dafür ist Johann Valentin Andreaes Turbo (1616). Als Hilfestellung für Autoren erschien bereits 1737 eine Kompilation aus einigen Wortlisten im zweiten Band der Versuche in der Teutschen Rede- Dicht- und Sprachkunst. Das breitere Interesse an „Vagabunden“ und ihrer Kultur beginnt mit der Popularisierung durch die Romantiker. In der Novelle Die Glücksritter von Joseph von Eichendorff verstehen die fahrenden Gesellen, der freiheitsliebende Musikant „Klarinett“ und der zu Fuß auf Universitätswechsel befindliche Student Suppius, selbstverständlich Rotwelsch, das sie zur Tarnung benutzen.

Das Milieu der „Gauner“ und „Cochemer“ in der Provinz und den Einfluss, den sie – auch sprachlich – auf ihre Umwelt ausüben, schildert umfänglicher bereits 1855 der Roman Der Sonnenwirth, an dem besonders die kulturgeschichtliche Exaktheit gelobt wurde. Der Kriminalist und Schriftsteller Avé-Lallemant hat in seinen Polizeiromanen des 19. Jahrhunderts zahlreiche Dialoge in Rotwelsch geschaffen. In einem historischen Kriminalroman, der die Halbwelt aus Tagelöhner, Huren und Ganoven des Hamburger Stadtteils St. Jakobi im Jahr 1617 schildert, sind einige Szenen des rotwelschen Milieus geschildert. Die Wirren des Dreißigjährigen Kriegs und die Kultur der Entrechteten in der frühen Neuzeit, die sich in der Verfolgung zum Schutz der Geheimsprache bedienen, schildert der Roman Der Judenweg, und besonders auch die Sprachkontakte des Jiddischen mit z. B. dem Lateinischen und Französischen, die in den Randgruppensprachen relevant sind, werden anschaulich geschildert.

In der Weimarer Republik wurden viele rotwelsche Begriffe der Unterwelt, in der es sowohl bei den Haberen (Zuhältern) wie den Kuttenbrunzern (Mönchen) meist um Diridari (Geld) geht, in die quasi-amtssprachliche Kommunikation eingebettet. Dies wird in den Kriminalromanen um den fiktiven Münchner Ex-Kommissar und nunmehrigen Privatdetektiv Paul Kajetan recht authentisch wiedergegeben, da der Autor dafür zeitgenössische Polizeiakten und Verhörprotokolle gesichtet hat. In der in Münster angesiedelten Krimi-Serie Wilsberg wird in der Folge Doktorspiele die Kenntnis der Rotwelsch-Variante Masematte zu einem Schlüssel der Verbrechensaufklärung.

Zu den wenigen originalen Schriftbelegen gehören die „gaunersprachlichen“ Briefe, die der Stuttgarter Kriminalkommissar Metelmann in einer Badeanstalt aufgefunden hat und 1916 mit Übersetzungen veröffentlichte. Ihr Verfasser konnte nicht ermittelt werden. Hier zwei Beispiele daraus:

Der regionalsprachliche Gebrauch und die Nähe zum hochdeutschen Sprachstand erlaubt es auch, das Rotwelsch bzw. Jenische für versteckte Botschaften zu nutzen. Ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist die Karte eines Handwerkers aus Lützenhardt im Schwarzwald über seine Kriegsgefangenschaft:

Die russische Zensur fand an der Mitteilung des Josef Ludwig Blum keine Beanstandungen und ging davon aus, dass die Herren Bock und Schofel tatsächlich existierten. Doch die zwei Wörter Schofel („schlecht“) und Bock („Hunger“) konterkarieren den vorherigen Inhalt mit dem Hinweis auf das Lagerelend.

Günther Puchner hat in seinem Buch bereits vorliegende deutsche Prosatexte, Gedichte und sogar einige Bibelstellen ins Rotwelsche übertragen. Als Beispiel hier die dritte Strophe des Deutschlandliedes von Hoffmann von Fallersleben auf Rotwelsch:

Varianten

Andere historische Bezeichnungen

Als andere historische Bezeichnungen mit zum Teil engerer Bedeutung, die dann bestimmte Sprechergruppen fokussieren, sind unter anderem belegt:

  • Keimisch (1475): Juden- oder Kaufmannssprache, von rotw. Keim, „Jude“, aus jidd. chajim, „die Lebenden“, als Gegenbegriff zu jidd. gojim „Nicht-Juden“, oder aus dem jüdischen Vornamen Chaim, der auf die gleiche Wurzel chajim „Leben“ oder auf den span.-portug. Vornamen Jaime zurückgeführt wird
  • Mengisch (1560): von rotw. Meng „Kesselflicker“, aus althochdt. mangari „Krämer“
  • Pleißne: Geheimsprache im Hausierhandel, Peitschenhandel im Killertal, Zollernalbkreis
  • Wahlerey (1687): „Spitzbuben-Sprache“, Herkunft unsicher
  • Jenische Sprach (1714): von romani džin „wissen“, demnach in etwa „Sprache der Wissenden/Eingeweihten“
  • Jaunerisch (1720) und Jauner-Sprache (1727): von rotw. J(u)on(n)er „Falschspieler“, aus frühneuhochdt. junen „spielen“, oder aus jidd. jowon „Ionien, Griechenland“
  • Kochum(er) Lohschen (1822): von jidd. chochom „klug, weise, gelehrt“, und jidd. loschon „Sprache, Zunge“
  • Kundenschall (1906): von rotw. Kunde (1828) „Handwerker auf der Walz, Bettler, Landstreicher“, aus dt. (der) Kunde in der frühneuhochdt. Bedeutung „Bekannter, Vertrauter“ (zweifelhaft ist zusätzlicher Einfluss von jidd. kun „Richtiger, Rechter“) und rotw. Schall „Gesang“; entspricht den in der Rotwelschforschung des 19. Jahrhunderts geprägten Termini „Kundensprache“, bzw. „Kundenlied“ für das rotwelsche Sprachgut der reisenden Handwerker
  • Lotegorisch: ehemalige Händlersprache im Leiningerland von jidd. Loschen ha koidesch „Jiddisch“, wörtl. „heilige Sprache“ (aus loschon „Sprache“, und koidesch „heilig“)
  • diverse Zusammensetzungen mit dem Wort -latein in der übertragenen Bedeutung „auf besonderem Wissen beruhende, nicht allen Menschen verständliche Sprache, Insidersprache“ (z. B. Bettlerlatein, Krämerlatein, Gaunerlatein).

Weitere Sprachbezüge und Ausprägungen

  • Argot (Frankreich)
  • Buttjersprache (Minden)
  • Gefängnissprache
  • Jenische Sprache (Deutschland, Schweiz, Österreich, Frankreich, Beneluxländer)
  • Kauderwelsch
  • Kochum (Hundeshagen (Thüringen))
  • Kofferaner Musikantensprache
  • Liste deutscher Wörter aus dem Hebräischen und Jiddischen
  • Lotegorisch (Carlsberg (Pfalz))
  • Lunfardo (Argentinien)
  • Manische Sprache (Gießen: Gummiinsel, Marburg, Wetzlar)
  • Masematte (Münster)
  • Mattenenglisch (Bern)
  • Rotwellsche Grammatik
  • Schlausmen (Winterberg, Hochsauerland)
  • Seemannssprache
  • Soldatensprache
  • Studentensprache
  • Zinken (Geheimzeichen)

Literatur

Chronologisch sortiert:

  • Liber Vagatorum. Der betler orden. Basel 1510. Eine andere Ausgabe und mögliche Vorlage ist Der bedeler ordẽ || vud or vocabular || in rotwelsch. Hans Dorn, Braunschweig 1510.
  • Martin Luther (Vorrede): Von der falschen Betler || buberey/ Mit einer Vorrede || Vnd hinden an ein Rotwelsch || Vocabularius/ daraus man die wo(e)rter/ || so yn diesem bu(e)chlin gebraucht/ || verstehen kan. Georg Rhau, Wittenberg 1528.
  • Die Rotwelsch Grammatic vnnd barlen der Wanderschafft: Dardurch den Weißhulmen geuopt, die Hautzin besefelt, vnnd die horcken vermonet. Deck, Basel ca. 1540, Digitalisat, enthält eine größere Zusammenstellung von Vokabeln, dann Typologien von Rotwelsch-Sprechern.
  • Spitzbuben-Sprache oder Wahlerey und Roth-Welsch. Wie solche von dem inhafftirten Andreas Hempeln angegeben worden. Ca. 1687. Digitalisat: [1]
  • Wörter=Buch von der Zigeuner=Sprache. Frankfurt und Leipzig 1755. Reprint, hgg. u. komm. v. Klaus Siewert u. Norbert Boretzky, Auf der Warft, Hamburg; Münster 2020.
  • Friedrich Ludwig Adolf von Grolmann: Wörterbuch der in Teutschland üblichen Spitzbuben-Sprachen, In 2 Bänden, die Gauner- u. Zigeuner-Sprache enthaltend. Müller, Giessen 1822.
  • Joseph Karl von Train (Hg): Chochemer Loschen. Wörterbuch der Gauner- und Diebs- vulgo Jenischen Sprache, nach Criminalacten und den vorzüglichsten Hülfsquellen für Justiz-, Polizei- u. Mauthbeamte, Candidaten der Rechte, Gendarmerie, Landgerichtsdiener und Gemeindevorsteher. Gödsche, Meißen 1833, Digitalisat.
  • August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Rotwelsch. In: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Literatur und Kunst. Bd. 1 (1854), S. 329–342.
  • Friedrich Christian Avé-Lallemant: Das deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. Brockhaus, Leipzig 1858.
  • Franz von Miklosich: Beiträge zur Kenntnis der Zigeunermundarten. 4 Bände, Gerold, Wien 1874–1878, Reprint, Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1984, Teilabdruck als Digitalisat
  • Heinrich Houben: Leitfaden zum Krämerlatein, genannt Henese-Fleck. Giskes & Becker, Breyell 1888.
  • Carl Kahle: Die fahrenden Leute der Gegenwart und ihre Sprache. Ein Beitrag zur Geschichte des Vagabundentums und des Gaunerwesens. Bauch, Gera 1889.
  • Friedrich Kluge: Rotwelsches Quellenbuch (= Rotwelsch. Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der verwandten Geheimsprachen. Band 1. Straßburg 1901 (Reprint De Gruyter, Berlin 1987, ISBN 3-11-010783-X). Inhaltsverzeichnis: [2]. Digitalisat.
  • Hans Ostwald: Rinnsteinsprache. Lexikon der Gauner-, Dirnen- und Landstreichersprache. Harmonie, Berlin 1906.
  • Louis Günther: Beiträge zur Systematik und Psychologie des Rotwelsch und der ihm verwandten deutschen Geheimsprachen. II. Die Stände, Berufe und Gewerbe. In: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 47. Band, Leipzig 1912 [Digitalisat https://www.projekt-gutenberg.org/grossh/kriminal/chap001.html]
  • Louis Günther: Die deutsche Gaunersprache und verwandte Geheim- und Berufssprachen. Leipzig 1919 (Reprint-Verlag Leipzig, Holzminden 2001, ISBN 3-8262-0714-9).
  • Petrikovits, Albert: Die Wiener Gauner-, Zuhälter- und Dirnensprache. Öffentliche Sicherheit, Wien 1922.
  • Wilhelm Polzer: Gauner-Wörterbuch für den Kriminalpraktiker. J. Schweitzer, München usw. 1922.
  • Karl Treimer: Das tschechische Rotwelsch. Entstehung und Schichten. Winter, Heidelberg 1937.
  • Ragnvald Iversen: The Rodi (Rotwelsch) in Norway. Secret Languages in Norway, Vol. 2. Dybwad i komm., Oslo 1945.
  • Siegmund A. Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache. Bibliographisches Institut, Mannheim 1956.
  • Günter Puchner: Sprechen Sie Rotwelsch. 2448 Wörter und Redewendungen der deutschen Gaunersprache. Deutsch – Rotwelsch. Heimeran, München 1975, 2. Aufl.
  • Günter Puchner: Kundenschall. Das Gekasper der Kirschenpflücker im Winter. Dtv, München 1976, ISBN 3-423-01192-0 (1. Aufl. bei Heimeran, München 1974, ISBN 3-7765-0192-8)
  • Robert Jütte: Sprachsoziologische und lexikologische Untersuchungen zu einer Sondersprache. Die Sensenhändler im Hochsauerland und die Reste ihrer Geheimsprache (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beiheft 25). Steiner Verlag, Wiesbaden 1978, ISBN 3-515-02660-6.
  • Rudolf Fricke: Das Rotwelsch der Knochenhauer aus unserer engeren Heimat.In: Braunschweigischer Kalender, Jg. 8 (1978), S. 55
  • Günter Puchner: Ein Arm voll Schmonzes. Gedichte. Fischer, Frankfurt (Main), 1983 (weitere Übersetzungen von „Klassikern“ ins Rotwelsch)
  • Rosemarie Lühr, Klaus Matzel: Zum Weiterleben des Rotwelschen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik (ZDL), Jg. 57 (1990), Heft 1, S. 42–53, ISSN 0044-1449.
  • Hartwig Franke: Zur inneren und äußeren Differenzierung deutscher Sondersprachen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik (ZDL), Jg. 58 [1991], S. 56–62, ISSN 0044-1449.
  • Siegmund A. Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache. Buske, Hamburg 1994, ISBN 3-87118-736-4.
  • Klaus Siewert (Hrsg.): Rotwelsch-Dialekte. Symposium Münster 10.–12. März 1995 (Sondersprachenforschung; Bd. 1). Harrassowitz, Wiesbaden 1996, ISBN 3-447-03788-1.
  • Klaus Siewert (Hrsg.): Olf, bes, kimmel, dollar, hei ...Handwörterbuch der Münsterschen Masematte. Waxmann, Göttingen 1996.
  • Roland Girtler: Rotwelsch. Die alte Sprache der Diebe, Dirnen und Gauner. Böhlau, Wien 1998, ISBN 3-205-98902-3.
  • Yaron Matras: The Romani element in German secret languages. Jenisch and Rotwelsch. In: Ders. (Hrsg.): The Romani element in non-standard speech (Sondersprachenforschung; Bd. 3). Harrassowitz, Wiesbaden 1998, S. 193–230, ISBN 3-447-04071-8.
  • Peter Honnen: Geheimsprachen im Rheinland. Eine Dokumentation der Rotwelschdialekte in Bell, Breyell, Kofferen, Neroth, Speicher und Stotzheim (= Rheinische Mundarten. Band 10). 2. Auflage. Rheinland-Verlag, Köln 2000, ISBN 3-7927-1728-X (mit CD).
  • Hansjörg Roth: Jenisches Wörterbuch. Aus dem Sprachschatz Jenischer in der Schweiz. Huber, Frauenfeld 2001, ISBN 3-7193-1255-0.
  • Georg Schuppener: Bibliographie zur Sondersprachenforschung (Sondersprachenforschung; Bd. 6). Harrassowitz, Wiesbaden 2002, ISBN 3-447-04510-8.
  • Thorsten Weiland: Das Hundeshagener Kochum. Ein-Rotwelsch-Dialekt von Wandermusikanten aus dem Eichsfeld. Quellen, Wörterbuch, Analyse. Schöningh, Paderborn; München 2003, Digitalisat
  • Hansjörg Roth: Barthel und sein Most. Rotwelsch für Anfänger. Huber, Frauenfeld 2007, ISBN 3-7193-1462-6.
  • Bernhard Gamsjäger: Musikantensprache. In: Rudolf Flotzinger (Hrsg.): Oesterreichisches Musiklexikon, Bd. 3. ÖAW, Wien 2004, S. 1515, ISBN 3-7001-3045-7, (auch online, letzte Änderung 2009).
  • Manfred E. Theilacker: Der Kochemer Loschen – die Sprache der Klugen. Zur Sozialgeschichte einer Sondersprache des Wanderhandels, der Hausierer, Bettler und Viehhändler in Württemberg (= Landes- und Wirtschaftsgeschichte, Band 27). Thorbecke, Ostfildern 2017.
  • Günter Danzer: Sammlung und (Be-)Deutung von jenischen (rotwelschen) Wörtern im süddeutschen Sprachraum, in Österreich, der Schweiz und in Südtirol. Einhorn, Schwäbisch Gmünd 2019.
  • Martin Puchner: Die Sprache der Vagabunden. Eine Geschichte des Rotwelsch und das Geheimnis meiner Familie. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Siedler, München 2021.
  • Klaus Siewert: Wörterbuch deutscher Geheimsprachen. Rotwelsch-Dialekte. In Zusammenarbeit mit Rudolf Post. Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2023, ISBN 978-3-11-019032-8, Rezension.

Weblinks

  • Kleine Liste mit Rotwelschausdrücken
  • Rothwelſch, Rotwelsch aus Publikationen von 1510 bis 1901.

Einzelnachweise


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